Korsika – Mit dem Rad durch das Gebirge im Meer Es ist Ende August. Nach dem gnadenlos guten Jahrhundertsommer gehen in Europa die großen Ferien zu Ende. In den Urlaubsregionen rund um das Mittelmeer kehrt allmählich wieder Ruhe ein. Das ist eine gute Zeit, um bei spätsommerlichen Bedingungen die spektakuläre landschaftliche Szenerie Korsikas mit dem Rad zu genießen. Kurz entschlossen buche ich ein „Bike & Bus“ -Mitfahrticket bei Natours. Sonntags, am 31.08. geht es mittags los in Osnabrück. Mein Rad liegt fest vertäut neben 8 weiteren Rädern der Radeltruppe auf dem Dach des Busses. Im Bus sitzen außer den 8 Radlern und mir weitere 12 Wandervögel, die die Bergwelt zu Fuß erkunden wollen. Der Weg ist weit, die Fahrt ist lang. 18 lange Stunden später erreichen wir im Morgengrauen die italienische Hafenstadt Livorno. Es bleibt genug Zeit, um in aller Ruhe die Räder abzuladen und das Gepäck am Rad zu verstauen. Dicke Wolkenpakete ziehen von Korsika herüber zum Festland, das Wetter sieht nicht sehr einladend aus! Kurz nach acht Uhr legt die gelbe „Marina“ der Corsicaferries ab. Nachdem wir das Hafenbecken verlassen haben, geht’s gleich ziemlich zur Sache. Heftiger Wind und guter Wellengang lassen den Kahn ordentlich schaukeln. Helgolanderprobt peile ich den Horizont an und vermeide so das bei einigen Passagieren unvermeidliche Füttern der Fische. Den September am Mittelmeer habe ich mir etwas heimeliger vorgestellt. Doch je mehr wir uns Korsika nähern, desto schwächer wird der Wind und tatsächlich scheint über der Leeseite der Insel, also genau über Bastia, durch eine schmale Wolkenlücke die Sonne. Das sieht doch nun schon wieder sehr versöhnlich aus. Mittags erreichen wir nach vierstündiger Überfahrt den größten Hafen der Insel. Direkt hinter Bastia geht’s steil hinauf auf den Gebirgsrücken, der sich bis in den äußersten Nordzipfel der Insel erstreckt. Der Monte Stello erreicht mit einer Höhe von 1307 m den höchsten Punkt auf der Halbinsel vom Cap Corse. Vom Wasser sieht die Gebirgskulisse bereits sehr imposant aus. Mehr als 24 Stunden nach der Abfahrt in Allemania erreiche ich Korsika. Montag, 01.09.2003: Bastia – Cap Corse – St. Florent (Stella) Nach der langen Sitzerei juckt es mich in den Beinen, ich will endlich losradeln. Ich verabschiede mich von den mitgereisten Wandervögeln und der Radeltruppe und stelle angenehm überrascht fest, dass es an Land erfreulich warm ist. Leicht bekleidet beginne ich meine Tour durch das Gebirge im Meer. Zum einfahren wähle ich die landschaftlich wunderschöne Strecke um das Cap Corse. Zumindest auf der Ostseite dieser Halbinsel sind keine nennenswerten Steigungen zu meistern. Ich will es locker angehen lassen, Höhenmeter warten später noch reichlich! Als ich Bastia verlasse, liegt beißender Brandgeruch in der Luft. Die Maccia auf der Ostseite des Monte Stello ist großflächig abgebrannt, es kokelt und raucht noch an einigen Stellen. Die Feuerwehr ist gerade dabei, einen offensichtlich größeren Einsatz zu beenden. Später lese ich in der Zeitung, dass dort 6000 Hektar Buschland und auch einige Häuser abgefackelt sind. Der extrem heiße und trockene Sommer hat also auch hier seine Spuren hinterlassen. In stetigem moderatem Auf und Ab folgt die Strasse der Küste nordwärts und passiert dabei kleine Dörfer mit schnuckeligen Häfen. Das Meer ist hier ruhig und klar, mehrere Strände laden zum Baden ein. Ich komme flott voran, radeln ist echter Genuss. In Macinaggio endet die Küstenstrasse, ab hier wird es erstmals ernst. Der Col de Serra ist zwar nur 365 m hoch, aber die Fahrt hinauf bietet schon einen guten Vorgeschmack auf die „richtigen“ Pässe. Die Strasse windet sich in zahlreichen Kurven immer höher, der Blick öffnet sich auf das Cap Corse mit seinen kleinen vorgelagerten Inselchen. Im Hintergrund dominiert die Insel Capraia den Horizont. Der Pass liegt in einem Sattel, hinter dem sich die raue Westküste der Halbinsel öffnet. Als ich die Passhöhe erreiche, werde ich von dem heftigen Westwind erfasst, der sich hier mit Gewalt durch die „enge Düse“ quetscht. Hier ist Konzentration gefordert! Angesichts der exponierten Topographie der Strasse verspüre ich wenig Lust auf einen Freiflug ins Meer. Wenige Meter oberhalb des Passes steht eine alte Windmühle auf dem Buckel. Die Aussicht von hier ist wunderbar. Rundum schweift der Blick vom Cap Corse über die steile Westküste bis hin zu Korsikas höchsten Bergen, die schemenhaft im Hintergrund erkennbar sind. Der weitere Verlauf der Strasse lässt ahnen, dass es ab hier nun etwas langsamer vonstatten gehen wird. Obwohl es schon später Nachmittag ist, verspüre ich Lust, noch weiter zu radeln. Die Strasse entlang der Westküste vom Cap Corse stellt für mich einen ersten Höhepunkt der Tour dar. Schmal, steil, ausgesetzt, traumhafte Ausblicke und kaum Verkehr zeichnen diese Strecke aus. Allerdings stelle ich fest, dass die sonstige Infrastruktur hier recht spartanisch ist. Campingplätze sind Mangelware. Der letzte war ganz im Norden in Centuri-Port, der nächste wird erst wieder kurz vor St. Florent verfügbar sein. Nach einer langen Nacht im Bus und bereits einigen Kilometern mit dem Rad würde ich gerne mal duschen. Die Brunnen am Wegesrand sind fast alle trocken, also heißt es, Kräfte gut einteilen und weiterradeln. Aufgrund der bewegten Topographie der Westküste komme ich nun nicht mehr ganz so schnell voran. Als ich hinter Nonza die Ruine der alten Asbestmine passiere, wird es duster. Zum Glück ist es wunderbar mild, ich schalte meine Beleuchtung ein und radel noch etwa ein halbe Stunde, bis ich bei Tour den Campingplatz „A Stella“ erreiche. Zufrieden und müde baue ich mein Zelt auf, dusche, trinke noch einige sündhaft teure Biere und falle dann in den Schlafsack. Dienstag, 02.09.2003: St. Florent (Stella) – I’lle-Rousse – Calvi Die Regeneration in der Nacht tat gut, am Morgen fühle ich mich bestens. Der Wind hat deutlich nachgelassen. Ich lasse die Halbinsel des Cap Corse hinter mir und passiere bald das Hafenstädtchen St. Florent. Kurz hinter dem Ort verlässt die Strasse die Küste. Es geht hinauf in die „Désert des Agriates“, ein karges Bergmassiv mit viel Fels und wenig magerer Vegetation. Kurvenreich schraubt sich die Strasse bis hinauf zum höchsten Punkt, dem Bocca di Vezzu auf 311 m Höhe. Hier oben schweift der Blick von der „Bergwüste“ über den Golf von St. Florent bis zum Cap Corse. Es folgt eine kurvenreiche rauschende Abfahrt auf gut asphaltierter Strasse. Mangels Alternativen führt die weitere Strecke bis Calvi leider auf der stark befahrenen Route Nationale weiter. Die Ausblicke auf das Meer sind zwar wunderbar, dennoch kommt auf der breiten Strasse mit regem Verkehr beim Radeln wenig Freude auf. Diese Strecke ist ein Fall zum „abmetern“, ohne rumzutrödeln fahre ich mit strammem Tritt weiter. Die Strandpromenade von I’lle-Rousse lockt zur willkommenen Mittagspause. Die Küste und das Hinterland zwischen I’lle –Rousse und Calvi sind für korsische Verhältnisse recht dicht besiedelt, die Strände sind überwiegend mit Feriensiedlungen und Campingplätzen erschlossen. Kurz vor Lumio ist eine kleine Anhöhe zu überwinden, dann öffnet sich das Panorama über den Golf von Calvi, an dessen Ende die gewaltige Zitadelle thront. Etwas überrascht bin ich über die Häufung von Campingplätzen, kein anderer Ort in Korsika weist eine annähernd hohe Dichte auf. Später begreife ich, warum das so ist: Calvi ist einfach schön! Das Ambiente ist stimmig, die Hintergrundkulisse wird geprägt von über 2000 m hohen Bergen, die Bucht ist mit ihren weißen Sandstränden perfekt zum baden. Im Hafen protzt der wohlhabendere Teil der Weltbevölkerung mit ihren Luxusjachten um die Wette, die Altstadt mit ihrer schönen Hafenpromenade sind ideal zum bummeln und schauen. Und dann ist da noch die Zitadelle! Diese Trutzburg aus wilderen Zeiten ist abends in mystisches Licht getaucht und thront hoch über der Altstadt. Bei meinem nächtlichen Erkundungsgang stelle ich überrascht fest, dass sich innerhalb der Zitadelle noch mal ein vollständiger eigener Stadtteil befindet mit Kirchen, Wohnhäusern, engen Gassen und diversen Restaurants. Der Ausblick von der dicken Mauer der Zitadelle ist beeindruckend, jetzt in der Nacht liegt mir der Hafen mit seiner Promenade hell erleuchtet zu Füssen. Selbst in der Nebensaison herrscht hier in Calvi noch reger Betrieb, wie mag das erst im Hochsommer aussehen? Mittwoch, 03.09.2003: Calvi – Porto Da die stark befahrene Route Nationale hier in Calvi endet, freue ich mich heute auf eine ruhigere Etappe. Die Strecke zwischen Calvi und Porto entlang der wilden Westküste gehört für mich mit zum Besten, das die Insel zu bieten hat. Hoch über dem Meer schlängelt sich das schmale Sträßchen in stetigem auf und ab an der Küste entlang, ab und an begegne ich einem Auto oder einem Motorrad. Der Hauptbergkamm der Insel versinkt hier im Meer. Die spektakuläre Szenerie ist mittlerweile als Naturpark besonders geschützt. Sandbuchten oder Bademöglichkeiten findet man hier ebenso wenig wie Trinkwasser oder Einkaufsmöglichkeiten, es ist sehr einsam hier. Die Abfahrt ins Fango-Tal bei Galéria ist beschwerlich, der Asphalt ist äußerst buckelig, daher geht’s nur langsam abwärts. Nach einigen Kilometern entlang des Fango verlässt die Strasse das Tal wieder und zieht sich in langen Kurven hinauf zum Col de Palmarella in 408 m Höhe. Die Macchia ist in weiten Teil völlig vertrocknet und braun, alle Brunnen sind furztrocken. Ich bin froh über meine drei Liter Wasser, die ich mir nun sogar noch einteilen muss, da ich nicht weiß, wann es wieder etwas zu trinken geben wird. Auf der Passhöhe fällt mir die Kinnlade runter, der Ausblick auf den Golf von Girolata ist überwältigend. Eingerahmt wird der Golf von dem wilden zerklüfteten Naturschutzgebiet der Halbinsel La Scandola und der Halbinsel des Capo d’Osani. Unten am Wasser liegt das namensgebende Dorf Girolata. Kurioserweise hat es noch niemand geschafft, dorthin eine Strasse zu bauen. Das Dorf kann nur zu Fuß oder mit dem Schiff erreicht werden, so etwas ist in Europa selten geworden! Die Strasse wird nun ziemlich spannend, sehr schmal und ausgesetzt verläuft sie hoch über dem Tal entlang der steilen Flanke. In weiten Bögen und zahlreichen Kurven zieht sich die Straße durch die Seitentäler. Dort wo die Strasse an ihrer tiefsten Stelle das Haupttal quert, finde ich im Schatten von alten Eukalyptusbäumen einen Brunnen, der munter sprudelt. Welch eine Wonne! Hier trinke ich köstliches Wasser, bis es mir an den Ohren wieder hinausläuft und fülle meine Flaschen auf. Die Strecke führt auf gleicher Höhe weiter und erreicht den Col de la Croix. Hier öffnet sich der Blick auf den Golf von Porto, der von Porto’s Hausberg, dem Capo d’Orto gekrönt wird. Kurz vor Porto wird es noch mal richtig eng auf der Strasse. Hier stürzen die Felsen fast senkrecht ins Meer. Das Sträßchen ist in einer abenteuerlichen Weise in die senkrechte Felswand gebaut, eine Meisterleistung! Autofahrer geraten hier echt ins Schwitzen. Mit dem Rad halte ich an jeder Ecke an und genieße den tollen Ausblick. Gegenüber auf der anderen Seite des Golfes liegt das Felsenmeer der Calanche mit ihren bizarren rosafarbenen natürlichen Skulpturen, der Capo d’Orto ragt fast 1300 m direkt über Porto hoch in den Himmel, am Capo Rosso versinkt Korsika im Gegenlicht im Meer. Die landschaftliche Szenerie um Porto ist zweifellos bemerkenswert. Donnerstag, 04.09.2003: Porto – Evisa – Vico So dicht am Fuße des Capo d’Oro wirkt der Hausberg Portos noch majestätischer. Die Morgensonne taucht den Gipfel in ein strahlendes Licht. Heute ist Arbeit angesagt, einige Höhenmeter stehen auf dem Programm. In welche Richtung auch immer man Porto verlassen will, immer geht es stramm bergauf. So führt die Strasse nach Evisa am Rande der Spelunca-Schlucht hinauf. Die Steigung ist allerdings moderat, ich komme gut voran und habe genügend Muße, um die Szenerie zu genießen. Ich halte oft an zum schauen oder fotografieren und erreiche nach knapp drei Stunden das Bergdorf Evisa. Hier in 800 m Höhe ist es nicht mehr so heiß wie unten an der Küste, zum radeln ideal. Nach einer ausgedehnten Mittagspause fahre ich auf der glatt asphaltierten Strasse zunächst flott hinab nach Christinacce. Hinter dem Dorf geht es hinauf zum Col de Sevi auf 1101 m Höhe. Die Steigungen sind auf den letzten Kilometern vor der Passhöhe schon recht anständig, ich muss kräftig rein treten. Die Passhöhe liegt eng eingezwängt in einem Sattel, so dass die Aussicht stark eingegrenzt ist. Vom Pass führt die Abfahrt allerdings steil und aussichtsreich hinab nach Vico, die letzten Kilometer haben gar ein Gefälle von 15 %, da qualmen fast die Bremsen! Die Landschaft um Vico hat einen lieblichen Charakter, mehrere Dörfer liegen eingebettet in die waldreichen Hänge über dem Tal des Catena. Es gibt nur einen Campingplatz oberhalb von Vico mit rudimentärer Ausstattung. Hier in den Bergen ist deutlich spürbar weniger Tourismus als unten an der Küste. Freitag, 05.09.2003: Vico – Arbori – Arro – Lopigna – Bocca di Tartavello – Vero – Bocognano Am Morgen sieht der Himmel nicht gerade vielversprechend aus. Da ich Regen erwarte, packe ich schnell meine Sachen zusammen. Das Wetter hält sich aber und ich begebe mich auf einen sehr einsamen, aber wunderschönen Streckenabschnitt. Auf der Höhe von Vico bleibend verläuft eine aussichtsreiche Strasse hoch über dem waldreichen einsamen Tal des Liamone. Die Abfahrt zum Liamone ist zu meiner Überraschung nicht asphaltiert, auf dem Schotter lässt es sich allerdings ganz gut fahren, an eine rasante Abfahrt ist aber dennoch nicht zu denken. Hier ist wirklich gar nichts mehr los, ich habe die Piste für mich allein. Nachdem ich den ziemlich wasserarmen Liamone überquert habe, führt die Strasse in einer große Schleife durch dichten Wald hoch hinauf nach Arro. Mit leichtem Gefälle geht es nun über das Dorf Lopigna überwiegend abwärts bis zum Fluss Cruzzini. Das Tal des Cruzzini ist ebenfalls sehr einsam und naturnah. Der Weg folgt dem Fluss einige Kilometer aufwärts, gute Badestellen gibt es reichlich! Vom Fluss führt schließlich eine kurvenreiche Passstrasse durch dichten Wald hinauf zum Bocca di Tartavello auf 900 m Höhe. Kurz vor der Passhöhe liegt linkerhand eine Quelle am Wegesrand, die Wasser führt und ich fülle meine Tanks auf. Die Passhöhe selbst liegt im dichten Kiefernwald, die Aussicht ist daher stark eingeschränkt. Während der langen Abfahrt hinab ins Tal beginnt es leicht zu regnen. Heute noch einen weiteren Pass in Angriff zu nehmen wäre wenig empfehlenswert. Daher disponiere ich um, und radele flott hinauf nach Bocognano. Leider muss ich die Route Nationale benutzen, und die ist, wie immer, stark befahren. In Bocognano gibt es zwar etwas zu essen, aber leider keinen Campingplatz. Nachdem der Regen aufhört, beschließe ich, mich dem nächsten Pass schon mal zu nähern und unterwegs nach einem wilden Zeltplatz Ausschau zu halten. Ich muss gar nicht lange fahren, da weist ein Hinweisschild am Ortsausgang von Bocognano auf eine Bergerie hin, an der man auch Campen kann. Dieser „Zeltplatz“ ist dann in der Tat auch eher „wild“. Ich bin der einzige Gast, auf dem Gelände ist diverses Gerümpel und Gerät verteilt, die „sanitären Anlagen“ würde ich als Sanierungsfall klassifizieren. Egal, für eine Nacht reicht’s. In der Nacht geht wie angekündigt ein heftiges Gewitter mit reichlich Regen nieder. Das Zelt hält dicht. Samstag, 06.09.2003: Bocognano – Col de Scalella – Bastelica – Cauro – Petreto Bicchisano – Propriano Am Morgen sieht die Welt wieder heil aus. Ich verlasse früh dieses unwirtliche Etablissement und arbeite mich auf einsamer Strasse durch dichten Wald aufwärts. Wie es weiter geht, ist mir selbst nicht ganz klar. In Bocognano wies ein Schild darauf hin, dass diese Strasse nicht mehr befahrbar sei. Da ich keiner Menschenseele begegne, bekomme ich Zweifel, ob mein Entschluss richtig war. Irgendwann endet in der Tat die Strasse, von nun an führt nur noch ein schlaglochreicher grob geschotterter „Karrenweg“ weiter steil aufwärts. Horden von verwilderten Schweinen sind ab nun meine ständigen Begleiter. In wilder Panik suchen sie das Weite, wenn ich auftauche. Offenbar sind die Schweine hier oben normalerweise allein. Die Fahrt ist beschwerlich, aber im kleinsten Gang mit viel Fingerspitzengefühl ist auch diese Piste befahrbar und ich komme bei bestem Wetter langsam aber sicher höher und höher. Nach einigen rauen Kilometern erreiche ich die asphaltierte D 27, die mich hinaufführt zum Col de Scalella auf 1193 m Höhe. Der Anstieg zum Pass hat es allerdings in sich. Es gibt dort einige steile Abschnitte, die mir den Schweiß aus den Poren treiben. Die gesamte Strecke hinauf zum Pass ist sehr aussichtsreich und schön. Verkehr gibt es kaum hier. Der Blick nach Norden auf den Hauptkamm des Gebirges ist ungetrübt. Lediglich einige Wolkenfetzen vom nächtlichen Gewitter wabern noch um die Felstürme des Monte d’Oro. Entgegen der Darstellung in der Michelinkarte ist die Abfahrt nach Bastelica durchgehend asphaltiert und gut befahrbar. Durch den Wald geht es abwärts. Wenige Kilometer vor Bastelica gibt es nahe des Wasserfalles einen Zeltplatz. Die weitere Abfahrt von Bastelica nach Cauro ist eigentlich keine richtige Abfahrt sondern eher eine Achterbahn. In ständigem Auf und Ab geht es über vier kleinere Sättel auf einsamer Strasse talabwärts. In Cauro erreiche ich die Route Nationale. Diese Strasse ist zum Glück aber nicht allzu stark befahren. Ich arbeite mich auf aussichtsreicher Strecke über zwei weitere Pässe bis nach Propriano und genieße ungebremst die rauschenden Abfahrten auf der gut ausgebauten breiten Strasse. Sonntag, 07.09.2003: Propriano – Ste. Lucie – Levie – Zonza – Col de Bavella – Solenzara Propriano ist der südlichste Punkt meiner Tour. Nach Bonifacio will ich nicht, dazu müsste ich die Berge verlassen und mich mangels Alternativen überwiegend auf Hauptstrassen bewegen. Also geht’s wieder hinauf in die Berge zu meinem nächsten Ziel, dem Col de Bavella. Überhaupt nicht eingestellt bin ich auf den nur 80 m hohen „Pass“ direkt hinter Propriano. Völlig überraschend geht es gleich nach dem Start kurz und stramm bergauf. Die Warmfahrphase wird daher heute recht intensiv. Durch das Tal des Rizzanése geht es dann aber gemächlich weiter in Richtung Berge. Ernst wird erst der Anstieg hinauf nach Ste.Lucie. Das Dorf liegt malerisch auf einem Bergsporn. Die Strasse führt immer weiter aussichtsreich hoch über dem Tal den Berg hinauf. Kurz vor Levie geht es einige Meter abwärts, dann folgt die Strasse einem bewaldeten Hochtal hinauf nach Zonza. Heute ist Sonntag, die Cafés in Zonza sind voll mit Ausflüglern. Ich halte mich nicht lange auf, sondern beginne die Auffahrt zum Col de Bavella hinauf auf 1218 m Höhe. Das Wetter trübt sich leider ein, gelegentlich nieselt es etwas aus dem grauen Himmel. Der Anstieg zum Pass ist lang, aber von der Steigung her moderat. Kurz vor dem Pass bricht die Sonne durch einige Wolkenlücken und motiviert mich zum Endspurt. Eine gute Stunde nach meiner Abfahrt aus Zonza erreiche ich Korsikas berühmtesten Pass. Hier oben herrscht reger Ausflugsverkehr, Autos, Busse, Motorräder, auch einige Radler sind hier oben. Ich mache lange Pause und wärme mich in der gelegentlich durchbrechenden Sonne. Die imposanten Felstürme der Bavella werden gelegentlich von den weichenden Wolken enthüllt. In den Wänden hängen etliche Kletterer. Als dichter Nebel den Pass einhüllt, packe ich zusammen und mache mich an die Abfahrt. Die hat es in sich. Durch dichten Kiefernwald geht es steil abwärts. Der Asphalt ist schlecht und ich bremse mir die Felgen heiß. Am Fuße dieser Passrampe befinde ich mich wie in einem Amphitheater in einem beeindruckenden Rund aus hohen Felstürmen. Der wabernde Nebel sorgt für eine mystische Stimmung in den Wänden. Bevor es jedoch endgültig abwärts zur Ostküste geht, lauert da noch ein kleiner Pass, der Col de Larone. Die Abfahrt ist teilweise sehr eng und mit Schlaglöchern übersäht. Daher komme ich nur langsam voran. Das Tal des Flusses Solenzara ist wunderschön, zahlreiche Gumpen sind ideal zum Baden. Ich erreiche in Solenzara die Ostküste, bekomme aber leider nichts mehr zu essen, sonntags haben hier die Läden dicht. Ein paar kühle Biere bekomme ich aber an der Tanke. Auf dem Campingplatz baue ich direkt am Strand mein Zelt auf. Diesen schönen Ort kann ich leider nicht genießen, da ich mit einbrechender Dämmerung von Heerscharen dürstender Mücken überfallen werde. Das hat apokalyptische Dimensionen. Wenige Hartgesottene sitzen trotzig noch autanvernebelt und zugeknöpft bis zum Hut vor ihren Wohnwagen. Ich resigniere und finde erst biervernebelt im mückensicheren Zelt meine Ruhe. Welch ein unwirtlicher Ort, so etwas kenne ich sonst nur noch von Mecklenburgs Seen. Montag, 08.09.2003: Solenzara – Ghisonaccia – Ghisoni – Col de Sorba – Vivario – Venaco – Corte Es hat in der Nacht etwas geregnet, am Morgen hängen dicke Wolken über dem Meer und den Bergen. Ein vorsichtiger Test signalisiert mir, dass die Luft rein ist, die Mücken haben sich zurückgezogen und bereiten sich im Dickicht auf das nächste abendliche Festmahl vor. Bis dahin muss ich von hier verschwunden sein! Vom Strand beobachte ich ein Wetterphänomen, dass ich so noch nie zuvor erlebt habe. Dicke Wolkenpakete über dem Meer haben einen gigantischen „Saugrüssel“, eine Windhose, bis zum Wasser heruntergeführt. Rund fünf Minuten dauert das Schauspiel, die Windhose verändert beim Aufsaugen des Wassers ihre Gestalt, wird mal dicker mal dünner und löst sich schließlich in Luft auf. Da möchte ich jetzt nicht mit dem Boot rumschippern! Ich packe meine Sachen zusammen und radele ohne Frühstück los. Über die Route Nationale geht es 17 km nordwärts nach Ghisonaccia. Die Strecke ist echt übel! Hier ist viel Schwerlastverkehr unterwegs. Besonders tückisch sind die Kreuzungsbereiche! Die Mittelstreifen sind aufgemauert, so dass Fahrzeuge beim überholen nicht auf die Gegenfahrbahn ausweichen können. Da gibt’s nur ein Hilfsmittel: Stumpf in der Mitte der Fahrbahn radeln, so dass sich niemand vorbeizwängen kann, anderenfalls wird es verdammt eng! Die Strecke ist eben und ich erreiche Ghisonaccia zum Glück schnell. Hier verlasse ich die Alptraumpiste und fülle erstmal meine Futtervorräte wieder auf. Nach einem üppigen Frühstück geht es wieder zurück in die Berge. Hinter St. Antoine führt die Strasse durch ein enges Tal hinauf nach Ghisoni. Der Abschnitt durch die enge Klamm Défilé de l’Inzencca ist sehr steil, aber wunderschön. Verkehr gibt es hier kaum. Am Ende der Klamm verschwindet die Strasse in einem mehrere hundert Meter langen Tunnel. Der Tunnel hat allerdings keine Kurven, so dass das Licht am Ende sichtbar ist. Dennoch ist eine Beleuchtung am Rad wegen der besseren Erkennbarkeit ratsam. Der Stausee ist fast leer, die Strasse führt in moderater Steigung weiter das enge Tal aufwärts. Unten am Fluss funkeln zahlreiche Gumpen und laden zum Baden ein. Ghisoni habe ich schnell erreicht. Entgegen meiner Vermutung gibt es hier jedoch keinen Zeltplatz. Es ist noch früh am Tag, ich fühle mich fit, also beschließe ich, den Col de Sorba in Angriff zu nehmen. 11 Kilometer geht es zunächst durch Edelkastanien, dann durch Kiefernwald aufwärts. Die Steigung ist gut machbar. Weiter oben wabern Nebelbänke um die Passhöhe, und es wird kühler. Ein großer Teil der Ostflanke des Passes ist offenbar einem Feuer mit anschließendem Kahlschlag zum Opfer gefallen. Es sieht gruselig aus. Den Col de Sorba mit 1311 m Höhe erreiche ich rund 1,5 Stunden nach meinem Aufbruch aus Ghisoni. Da es hier schon mächtig frisch ist, ziehe ich mir warme Sachen an und fahre auf der Westseite des Passes abwärts. Auch hier prägt das traurige Bild eines großflächig abgefackelten Waldes die Szenerie. Aus früheren Zeiten habe ich diesen Pass noch in guter Erinnerung, einst führten die Serpentinen durch einen wunderschönen alten schattigen Kiefernwald. Jetzt sieht’s hier äußerst trostlos aus, es wird Jahrzehnte dauern, diese Wunde wieder zu heilen. Kurz vor Vivario erreiche ich die Route Nationale und genieße die rauschende Abfahrt. Vor Venaco geht es ein letztes Mal für heute hinauf zum Col de Bellagranajo. Die anschließende Abfahrt hinab nach Corte zählt für mich zu den besten Abfahrten der Insel. Ungebremst geht es in weiten Kurvenradien auf bestem Asphalt in hoher Geschwindigkeit abwärts, der Rausch endet erst mitten in Corte. An der Strasse in die Restonicaschlucht liegt der schöne Campingplatz „U Sognu“, auf dem ich absteige. Dienstag, 09.09.2003: Corte (Ruhetag) In der Nacht setzt ergiebiger Regen ein, der bis weit in den Vormittag andauert. An Weiterfahren ist heute nicht zu denken, oben in den Bergen wird es heute noch deutlich ungemütlicher sein als hier unten. Also mache ich mir einen ruhigen Tag in Corte. Die Lage des Ortes und seine berühmte Zitadelle rechtfertigen einen Aufenthalt, wenngleich ich die Stadt gemessen an der Anzahl ihrer Besucher für etwas überbewertet halte. Da gibt es sicherlich schönere Städte auf der Insel. Egal, um einen Tag auszuruhen, ist mir Corte gut genug. Ausruhen, das heißt für mich im Wesentlichen in der Stadt bummeln, Futter kaufen und gut kochen. Zwischendurch treiben mich Regenschauern immer wieder von der Strasse. Am Belvedere, dem Aussichtspunkt vor der Zitadelle, treten sich mittags zahlreiche Touris gegenseitig die Füße platt. Am Abend versuche ich es nochmal und es herrscht Frieden. Ich bin allein, welch eine Wohltat. Es ist dunkel, am Himmel steht der Vollmond. In weiter Ferne tobt irgendwo über der Toskana ein Gewitter und erleuchtet den Himmel gespenstisch. Als wäre das nicht schon alles spannend genug, zischt schließlich auch noch eine Sternschnuppe quer über den nächtlichen Himmel. Mittwoch, 10.09.2003: Corte – Favalello – Bustanico – Carticasi – San Lorenzo – Gavignano – Morosaglia – Col de Prato – Stoppianovia – Lutina – Col de St. Antoine – Piano – Silvareccio – Venzo – Venzolasca – Vescovato – La Canonica – Borgo In der Nacht ist es trocken geblieben, dennoch sieht der Himmel am Morgen wenig Vertrauen erweckend aus. Ich schwanke hin und her, ob ich den Bergtrip durch die Castagniccia wagen soll, oder besser auf dem direkten Weg über die Route Nationale zur Ostküste fahre. Die Berge mit ihren ausgedehnten Edelkastanienwälder locken mich ungleich mehr als der öde Highway. Während ich noch grübele, reißt der Himmel von Westen her auf und lässt nur noch eine Entscheidung zu: Ab in die Berge! Ein kurzes Stück N 200 lässt sich leider nicht vermeiden, dann biege ich links ab in Richtung Bustanico. Die D 39 habe ich nun wieder fast für mich alleine. In moderater Steigung geht es durch niedrigen Wald aufwärts nach Favalello. Die letzten Wolken des abziehenden Tiefs hängen noch vor den Bergen fest, es ist schattig und kühl. Hinter Bustanico zieht die Strasse steil zu einem namenlosen Pass hinauf, der um die 1000 m hoch ist. Die Steigung hat es in sich, das Hinterrad dreht im Wiegetritt auf der noch nassen und etwas lehmverschmierten Fahrbahn gelegentlich durch. Nachdem ich den Pass überquert habe, bekomme ich bereits einen ersten Vorgeschmack auf die Castagniccia, die Strasse verläuft durch einen dichten Wald aus Edelkastanien. Es geht überwiegend kurvenreich abwärts bis San Lorenzo. Hier am Westhang des höchsten Berges der Castagniccia, dem Monte San Petrone, hat es kurz zuvor wohl noch heftig geregnet. Alles ist nass, Geröll, Blätter und lose Äste bedecken die Fahrbahn. Der weitere Streckenverlauf gleicht mal wieder einer Achterbahn. Hinter San Lorenzo führt ein einsames Sträßchen steil über die Bergflanke hinüber ins Nachbartal nach Saliceto. Hier befinde ich mich direkt unterhalb des Felsgipfels des Monte San Petrone. Einige schöne Kilometer führen mich weiter durch den einsamen Wald, bis ich in Morosaglia die D 71, die „Hauptstrasse“ der Castagniccia, erreiche. Hier am Gedenkbrunnen von Pascale Paoli raste ich und stärke mich für die noch anstehenden Höhenmeter. Das Tief ist mittlerweile vollständig abgezogen, und es ist selbst hier oben wieder angenehm warm. Der Pass Col de Prato stellt mit seiner Höhe von 985 m die Pforte zum Herz der Castagniccia dar. Der Ausblick von hier oben in die „grüne Hölle“ mit ihren zahlreichen kleinen Dörfern an den Bergflanken ist einfach toll! Hoch über diesem Szenario thront der markante Felsdom des Monte San Petrone. Im Osten reicht der Blick auf das Mittelmeer. Dieses steile grüne Kastanienparadies ist durchzogen von zahlreichen kleinen Sträßchen, die die Dörfer miteinander verbinden, ein Eldorado zum radeln! Mit dem Auto machen solch enge Strassen vermutlich wenig Freude, aber das Rad ist hier das ideale Verkehrsmittel. Es erfordert schon einen ständigen kritischen Blick auf die Karte, wenn man sich in diesem kurvenreichen Labyrinth nicht verzetteln will. Hinter dem kaum als Pass wahrnehmbaren Col de St. Antoine weicht der Wald zurück. Offene Macchia, die zum Teil niedergebrannt ist, ermöglicht nun wunderbare Ausblicke auf die Täler der Castagniccia. In endlosen Kurven führt mich die Strasse im Abendlicht näher in Richtung Küstenebene, die ich schließlich kurz hinter Vescovato erreiche. Es folgt ein hammerhartes Kontrastprogramm! Nach der Abgeschiedenheit und Schönheit der Berge ödet mich die Küstenebene mit ihrer lärmenden Route Nationale mächtig an. Mangels Alternativen muss ich leider einige Kilometer auf diesem Alptraum „abmetern“, bevor ich südlich des Flughafens von Bastia auf die ruhigere Strasse zur Landzunge am Binnensee Etang de Biguglia abbiege. Spät erst erreiche ich rund 10 km vor Bastia den schönen direkt am Strand gelegenen Zeltplatz, wo es sogar einen kleinen Laden mit Lebensmitteln gibt. Donnerstag, 11.09.2003: Borgo – Bastia – Borgo Der Platz hier und die Lage gefallen mir gut, einen Standortwechsel brauche ich vor der Rückfahrt nicht mehr vornehmen. Also lasse ich Zelt und Ausrüstung am Camp und radele unbeschwert ohne Gepäck nach Bastia. Der Verkehr in die Stadt hinein ist auf der Hauptstraße allerdings von der übelsten Sorte. Erst in der Altstadt wird es wieder beschaulicher. Hier ist „Ruhetag“-Programm angesagt, das heißt bummeln, schauen, fotografieren, essen und einfach die mediterrane Atmosphäre der Hafenstadt einsaugen. Das Ambiente um den alten Segelhafen, die Zitadelle und die engen Gassen stimmt. Der große zentrale Platz an der Schnittstelle von Fährhafen und Altstadt ist mit seinen zahlreichen Cafés ein guter Ort zum sitzen und schauen. Am Nachmittag verlasse ich Bastia und radele zurück zum Camp. Den Tag beschließe ich mit einem Bad im noch herrlich warmen Mittelmeer und einem ausgiebigen „Abschiedsmahl“. Freitag, 12.09.2003: Borgo – Bastia Der Sonnenaufgang über Elba ist farbenprächtig, das Wetter könnte besser nicht sein. Es ist viel zu schade, heute die Heimfahrt antreten zu müssen. Ich gehe noch ein letztes Mal im Meer baden und rüste mich anschießend langsam für die Heimreise. Zum Mittag bin ich in Bastia und treffe dort an der Fähre meine Wandervögel und die Radlertruppe von Natours wieder. Zu erzählen gibt es reichlich! Die anschließende Fahrt mit der Fähre hinüber nach Livorno verläuft bei besten Bedingungen: spiegelglatte See, knallblauer Himmel und Sonne satt machen aus der Überfahrt ein letztes bemerkenswertes Erlebnis. Die Rückfahrt mit dem Bus verläuft schließlich nicht minder bemerkenswert, aber deutlich unangenehmer: zahlreiche Staus deuten unmissverständlich darauf hin, dass uns die sogenannte „Zivilisation“ wieder hat. Samstagnachmittag erreichen wir unseren Zielort, Osnabrück Hauptbahnhof. Zu meiner Verwunderung verläuft diese Heimkehr ausnahmsweise mal ganz ohne Regen ab: Hier ist das Wetter fast so schön wie in Korsika. Das macht die Rückkehr deutlich erträglicher als sonst. Zusammenfassung Zum Ende des Jahrhundertsommers fahre ich nach Korsika, um dort mit dem Rad die spektakulären Küstenstrassen und die einsamen Bergsträßchen zu erkunden. In 12 Tagen umrunde ich von Bastia startend auf einer Streckenlänge von 830 km entgegen dem Uhrzeigersinn die Insel. Die östliche Halbinsel vom Cap Corse eignet sich wegen ihrer moderaten Topographie sehr gut zum einfahren, die Westseite vom Cap Corse ist bereits wegen der insgesamt größeren Höhenunterschiede eine Spur anspruchsvoller. Es folgt das Hafenstädtchen St. Florent mit seiner lang gezogenen gleichnamigen Bucht. Im weiteren Verlauf führt der Weg etwas abseits der Küste über die Bergwüste „Désert des Agriates“, hier sind einige Höhenmeter zu meistern. Ich erreiche bald wieder die Küste und fahre auf aussichtsreicher aber auch stark befahrener Strasse über I’lle-Rousse nach Calvi. Calvi überzeugt mich durch seine schöne Lage, den großen Segelhafen und die alles überragende mächtige Zitadelle. Der weitere Tourenverlauf entlang der Küste zwischen Calvi und Porto ist wunderschön und wegen der zum Teil ausgesetzten Streckenführung hoch über dem Meer spektakulär. Porto liegt eingekesselt zwischen hohen Bergen am gleichnamigen Golf. Dort verlasse ich die Küste und fahre am Rande der Speluncaschlucht auf wenig befahrener Strasse hinauf zum Bergdorf Evisa. Es folgen einsame und steile Bergpassagen im Herzen der Insel über Vico, das naturnahe Tal des Liamone bis nach Bocognano. Der waldreiche Pass Cal de Scalella bietet einen tollen Ausblick auf den Hauptgebirgskamm Korsikas. Eine einsame achterbahnähnliche Strasse führt mich nach Cauro nahe Ajaccio. Ab hier fahre ich auf der gut ausgebauten Route Nationale durch die Berge bis an die Küste zum Hafenstädtchen Propriano. Da die Zeit knapp wird, verzichte ich auf den Abstecher nach Bonifacio, dem südlichsten Ort der Insel. Stattdessen folgt eine höhenmeterreiche Tour von Meer zu Meer. Über den berühmtesten Pass der Insel, dem Bavella-Pass mit seinen Felstürmen, führt mich der Weg nach Solenzara an der Ostküste. Da die Ostküste zum radeln zu langweilig ist, fahre ich die enge Schlucht hinauf nach Ghisoni und von dort über den Col de Sorba ins Herz der Insel, in Korsika’s heimliche Hauptstadt Corte. Nach einem Ruhetag dort führt mich die letzte große Tagesetappe durch die ausgedehnten Edelkastanienwälder der Castagniccia zurück zur Ostküste bei Bastia. Am letzten Tag genieße ich vor der Heimfahrt noch einmal die mediterrane Atmosphäre der Hafenstadt Bastia. Allgemeine Tipps: Radeln in Korsika ist meistens anstrengend. Das liegt an der Topographie der Insel, der höchste Berg der Insel, der Monte Cinto ist immerhin 2706 m hoch und dabei nur 25 km Luftlinie von der Westküste entfernt. Die Steigungen an den Bergstrassen sind allerdings überwiegend moderat, mehr als 10% sind die Ausnahme. Die steilsten mir bekannte Abschnitte liegen mit etwa 15% zwischen Porto und Piana an der Westküste sowie zwischen Vico und dem Col de Sevi. Ein bergtaugliches Rad erleichtert das Vorankommen ungemein. Wie so häufig konzentrieren sich auch in Korsika der Fremdenverkehr und die entsprechende Infrastruktur hauptsächlich auf die Küsten. Dort ist daher deutlich mehr Verkehr, in den Bergen hat man mit dem Rad mehr Ruhe auf den Strassen. Vorsicht ist in den Bergen allerdings vor halbstarken Rasern geboten, die kurvenreichen Sträßchen scheinen so manchen Möchtegern-Schumi zu Höchstleistungen anzuspornen. Ein offenes Ohr kann daher nicht schaden, quietschende Reifen und jaulende Motoren sind eindeutige Anzeichen dafür, dass es gleich eng werden könnte auf der Strasse! Gehupt wird viel und gern, vor allem als Warnung in den zahlreichen unübersichtlichen Kurven der Berge. Einkaufsmöglichkeiten und Unterkünfte sind im Inselinneren rar, Ausnahme: Corte. Mangels Alternativen habe ich häufig Orte an der Küste als Etappenziel gewählt, sonst wären Tütensuppe und Wildzelten angesagt gewesen. Zum Radeln sind die Vor- und Nachsaison sehr angenehm. In der Hauptsaison von Juli bis August ist es ziemlich voll auf der Insel und oft auch heiß. Mai und Juni eignen sich gut, da ist es abends lange hell, alles ist grün, die Bäche und Quellen führen reichlich Wasser. Der September eignet sich auch gut, allerdings geht die Sonne schon gegen 20 Uhr unter. Zahlreiche Quellen am Wegesrand waren vermutlich aufgrund des trockenen Sommers 2003 versiegt. Oliver Lange (Oktober 2003)